Das Interview mit Aline Rotter-Focken – Ringerin und Olympia-Gold-Gewinnerin in Tokio 2021

Bekomme einen Einblick in die persönlichen Werkzeuge von Aline

Der nächste Gast in der Sportrunde: Aline Rotter-Focken – Ringerin und Olympia-Gold-Gewinnerin in Tokio 2021

Alter: 31

Sportart: Ringen

Wichtiger Hinweis: Die Teilnahme des Gasts an der Sport-Runde lässt keine Rückschlüsse darüber zu, ob eine sportpsychologische Zusammenarbeit mit Sebastian Altfeld besteht. Es ist lediglich ein Zeichen dafür, dass der*die Sportler*in/Trainer*in die dankenswerte Bereitschaft zeigt, die eigenen Ansichten und Ansätze zu teilen.

Thema Wettkampfvorbereitung:

Sebastian: „Wie bereitest du dich am Tag vor dem Wettkampf vor? Was machst du für dich und warum?“

Aline: „Also ich habe immer täglich meine Routine gehabt zum Meditieren, mindestens zehn bis zwanzig Minuten. So in Kombination mit ein paar Atemübungen. Das versuche ich auch vor dem Wettkampf zu machen. Manchmal ist mir nicht danach, dann lasse ich es auch einfach weg, aber ansonsten steht bei uns als Gewichtklassensportart immer Gewichtsreduktion in den letzten Tagen an. Den Rest der Zeit liegen wir sehr viel herum, gucken Serien, lesen, also ich lese sehr, sehr viel und entspanne mich einfach, um die Körner zu haben und trotz wenig Essen, wenig Trinken und abnehmen am nächsten Tag fit zu sein. Ansonsten höre ich noch gerne Bibi Blocksberg vorher. Das gibt mir immer ein gutes Gefühl und holt mich immer nochmal aus diesem Wettkampfmodus irgendwie raus. So kann ich dann so entspannt wie möglich ins Bett gehen.“

Sebastian: „Vielen Dank für die Einblicke. Mit dem Hörspiel kenne ich tatsächlich von mehreren Sportlern. Wie bereitest du dich am Tag des Wettkampfs auf den Start vor? Was machst du für dich und warum?“

Aline: „Das läuft eigentlich immer gleich. Also ich mache mir dann immer erstmal einen Shake aus Haferflocken, Bananen, Honig, den ich dann nach der Waage trinke. Wir haben morgens dann immer Waage, dann haben wir ein bisschen Zeit die Speicher aufzufüllen mit Essen und Trinken. Das ist dann also schon vorbereitet. Haare werden geflochten und gerichtet. Das ist bei uns immer ganz wichtig, dass man die nicht überall herumfliegen hat. Dann folgt mein Warm-up, eigentlich immer so 30 bis 40 Minuten. Je nachdem, ob ich am Anfang dran bin, dann schon recht früh oder halt später, so dass ich nicht ganz so viel Zeit bis zum ersten Kampf habe. Und wenn ich dann warm bin, ziehe ich mich nochmal trocken an und lese eigentlich die ganze Zeit weiter, bis ich dann wirklich dran bin und mein Trainer mich holt.“

Sebastian: „Ist dieser Ablauf mit deinem Trainer abgestimmt?“

Aline: „Ja, die Inhalte mache ich natürlich selbst, so wie es mir guttut. Es sind aber immer die gleichen. Beim Trainer abgestimmt ist immer der Zeitpunkt. Vor allem, wann fange ich an mit dem Warmmachen. Je nachdem, wann auch mein Kampf ist, bin ich am Anfang dran oder habe ich noch ein bisschen Luft? Und demnach ruft er mich dann -weil ich mich gerne auch zu früh warm mache- und redet dann ganz gerne mit mir und sagt dann: „Nein, erst dann und dann.“ Und da ich mich sehr oft mit ihm warm gemacht habe und er dann mein Partner war, hat er natürlich ein bisschen den Inhalt bestimmt. Je nachdem, wer auch mein erster Gegner war. Das Warm-up ist immer das gleiche. Die einzelnen Techniken, die man dann wiederholt, wie oft und wie intensiv, sind in der Variante vielleicht ein bisschen auf die erste Gegnerin abgestimmt, die ich dann an dem Tag habe.“

Sebastian: „Was machst du die letzten Minuten, um dich auf den Wettkampf vorzubereiten? Was genau machst du bewusst oder unbewusst, um dich so richtig auf den Wettkampf einzustellen?“

Aline: „Meine Erwärmung ist eigentlich immer die gleiche. Die ist intensiv. Da spiele ich eigentlich immer dieselben Sachen nochmal ab. Da gehe ich alle meine Techniken nochmal durch. Die mache ich dann auch so oft bis die für mich auch perfekt sind, bis ich das Gefühl habe: „Okay, so will ich die im Kampf machen.“ Und wenn es dann in diesen Call Room geht, dann bewege ich mich leicht weiter, schlage mich immer ein bisschen ins Gesicht, auf die Arme, auf die Beine. Einfach um mich aufzuwecken und mich schon mal ein bisschen auf die Härte, die mich im Kampf erwartet, einzustellen. Und dann visualisiere ich eigentlich die ganze Zeit. Also ich gehe meine Bewegungsabläufe durch, meine Techniken, die ich machen will, meine Angriffs- und Abwehrtechniken. Ich sehe mich eigentlich die ganze Zeit vor meinem inneren Auge selbst gegen meine Gegnerin mit den Angriffstechniken, die sie so hat, kämpfen. Ich habe die alle analysiert, zumindest kennen wir den Stil überwiegend, und dann spiele ich es einfach so durch und reagiere eigentlich auf alle Situationen, die im Kampf passieren könnten.“

Sebastian: „Das ist großartig. Vielen Dank. Aber das ist ja im Call-Room. Passiert noch etwas unmittelbar auf der Matte bei dir? Wie findest du hier den Fokus? Oder wie gehst du mit Nervosität um?“

Aline: „Das passiert eigentlich fast alles im Unterbewusstsein. Dadurch, dass Ringen wirklich so hochintensiv ist und wir eigentlich fast keine Verschnaufpausen haben, kann man da gar nicht viel bewusst machen. Wir üben das natürlich im Training auch mit kurzen Pausen und Anweisungen von der Seite vom Trainer und solchen Sachen. Aber im Großen und Ganzen passiert auf der Matte eigentlich fast alles von alleine. Deswegen muss man das einfach im Training üben, man muss Bewegungsabläufe im Training draufhaben, man muss die Sachen vorher visualisieren und mental durchgehen. Und auf der Matte passiert nicht viel. Wenn ich den Fokus ein bisschen verliere, dann schaue ich immer zu meinem Trainer. Ich höre mir, wenn kurz abgepfiffen und dann wieder angepfiffen wird, seine Hinweise und Tipps an. Es kann auch mal sein, dass ich eine kleine Runde laufe, damit ich durchschnaufen kann. Aber im Großen und Ganzen hat man immer nur wenige Sekunden Zeit und dann geht es direkt weiter. Deswegen ist das bei uns ein bisschen schwierig.“

Thema Motivation:

Sebastian: „Was machst du, wenn du im Training mal keine Motivation mehr hast?“

Aline: „Das ist bei mir glücklicherweise selten vorgekommen. Natürlich war ich hinten raus, je älter ich geworden bin, auch einfach platt und hatte nicht ganz so viel Lust, aber eigentlich war dieses Ziel Olympische Spiele und die Träume, die ich da hatte, so präsent und so in meinem Kopf, dass ich jetzt nicht das Problem hatte, mich zu motivieren. Es war eher so, dass ich meinen Körper aufwecken musste, wenn er mal kaputt und müde war. Und dann ist es einfach so, dass ich nicht mit mir selbst diskutiere: dann stehe ich einfach auf und gehe. Ich habe auch oftmals schon morgens um 6 Uhr/ 6:30 Uhr trainiert. Wenn man da anfängt mit sich selbst zu diskutieren und zu hadern: „Soll ich, soll ich nicht?“ dann geht das auf jeden Fall in die Hose. Deswegen mein Tipp Nummer 1: Immer wieder die Ziele vor Augen führen, so wie das, glaube ich, alle Leistungssportler machen, und Tipp Nummer 2: Einfach nicht diskutieren, einfach machen! Auch Leistungssportler haben natürlich nicht immer Bock und nicht immer Motivation, aber der Unterschied ist, glaube ich, dass sie das dann trotzdem einfach machen.“

Thema Persönlich:

Sebastian: „Was würdest du deinem 14-jährigen Ich für einen Tipp geben, den du damals hättest gebrauchen können?“

Aline: „Gott sei Dank hatte ich, glaube ich, immer ganz tolle Wegbegleiter und Mentoren, die mir viele Tipps gegeben haben. Vielleicht würde ich meinem Ich nochmal selber sagen „Halte durch!“ Damals lief es noch nicht immer perfekt. Und „Besinn dich auf weniger Menschen.“ Je erfolgreicher man dann wird, desto mehr reden mit, desto mehr drücken einem die Meinung auf oder mischen sich ein oder geben Kommentare ab. Und da würde ich mir raten, mich mehr auf mich selbst und meine Engsten zu besinnen. Mir nicht so viel den Kopf zu machen. Und auf jeden Fall jeden Moment zu genießen. Die Zeit als Leistungssportler ist immer zeitlich begrenzt. Ansonsten würde ich mir raten mich weniger zu erklären. Also nicht immer erklären, warum ich Dinge tue, mich entschuldigen für Dinge, die ich nicht entschuldigen muss. Das wären so die Tipps.“

Sebastian: „Wann war der Punkt als du dich für den Leistungssport bzw. für eine professionell Karriere entschieden hast?“

Aline: „Das war tatsächlich so mit 12, 13 Jahren. Da hat damals mein Vater mit meinem Heimtrainer ein Gespräch mit meinem Bruder und mir gesucht und hat uns gefragt, ob wir das ganze ernsthaft machen möchten oder hobbymäßig. Er würde uns, egal in welche Richtung, unterstützen. Wir müssten uns einfach nur entscheiden und haben uns damals dann beide ganz naiv für den Leistungssport entschieden, ohne zu wissen, was es eigentlich bedeutet. Und so bin ich dann da auch reingewachsen, dass man dann wirklich eigentlich jeden Tag trainiert hat. Zudem lerne ich auch, dass mein Vater dann auch nicht nur Papa war, sondern auch immer mehr Traine. So gab es dann auch mal zu Hause Mief, wenn man dann mal keinen Bock hatte, weil es irgendwie auch der Trainer war. Aber ja, das war relativ früh und naiv, weil ich nicht wusste, was auf mich zukommt.“

Sebastian: „Dass der Vater auch der Trainer ist, ist ja schon etwas Besonderes. Welchen Tipp würdest du Eltern, die gleichzeitig auch Trainer*in ihrer Kinder sind raten aus heutiger Sicht? Was war hilfreich und was sollte man lieber lassen?“

Aline: „Ganz klar: Die Rollen zu trennen. Zuhause ist Zuhause. Da ist man Mama oder Papa. Und ab der Halle oder ab einem gewissen Moment -bei uns war das immer im Auto, auf dem Weg- ab da ist man dann Trainer. Man kann dann trotzdem noch Mama und Papa sein und lieb sein, aber man muss es ein bisschen voneinander trennen. Gleichzeitig muss man sich hineinversetzen in das Kind, auf der anderen Seite sich emotional nicht zu sehr befangen machen. Als Trainer muss man professioneller sein. Wenn man zu sehr emotional drin ist, dann kann man auch nicht objektiv sein. Dann kann man nicht so gut helfen, mit Tipps oder Anweisungen. Deswegen ist es ratsom so rational wie möglich daranzugehen und ganz genau zu wissen: da bin ich jetzt für mein Kind Elternteil und da bin ich einfach Trainer.“

Sebastian: „Was machst du morgens, um gut in einen Tag zu starten?“

Aline: „Als ich noch Leistungssportlerin war, habe ich jeden Tag mit einer Meditation oder einer Atemübung begonnen. Einfach, um sich ein bisschen zu sammeln und den Tag ganz bewusst zu starten. Jetzt sieht das alles ein bisschen anders aus, mit Kind sowieso. Was ich aber immer noch mache, ist sehr gesund und reichhaltig frühstücken, ein bisschen meine To-dos für den Tag vor Augen führen und dann Step by Step alles abarbeiten. Also auch im Alltag bin ich jetzt noch diszipliniert, nur nicht mehr ganz so bewusst. Ich möchte auch wieder mit der Meditation und den Atemübungen beginnen, aber das dauert einfach noch ein bisschen.“

Sebastian: „Welcher Spruch, Buch oder Mensch hat dich am meisten beeinflusst auf deinem Weg?“

Aline: „Da gibt es jede Menge. An Filmen würde ich sagen, dass es die Rocky-Filme waren, die ich immer wieder in Dauerschleife geguckt habe, die mich motiviert haben. Beeinflusst hat mich auf jeden Fall mein Papa als mein allererster Trainer und größter Unterstützer, aber natürlich auch meine ganze Familie. Mein Bundestrainer Patrick Loes war insbesondere in den letzten Jahren ein riesengroßer, positiver Einfluss, ohne den ich niemals Olympiagold gewonnen hätte. Mein guter Freund Frank Stebler, der auch dreimal Weltmeister ist, war für mich eine sehr inspirierende Persönlichkeit. Und natürlich mein Sportpsychologe Lothar Linz. Es gibt ganz viele Menschen. Mein Erfolg und alles, was ich erlebt habe in den letzten Jahren, sind wirklich ein Produkt eines großen Umfelds. Bücher mag ich besonders „Der kleine Buddha“, „Auf dem Weg ins Glück“ heißt es, glaube ich. Da gibt es ganz viel. Da könnte ich jetzt zahlreiche weitere aufzählen.“

Sebastian: „Was machst du in deiner Freizeit, wenn du kein Training/ Wettkampf hast? Warum machst du das?

Aline: „Ich versuche in der Freizeit so viel Zeit wie möglich mit Freunden und der Familie zu verbringen. Dadurch, dass man auch einfach viel unterwegs ist und war, hat man nicht immer so viel Zeit miteinander gehabt. Und für mich ist das wirklich richtig Akku aufladen. Richtig gut essen gehen, einfach normale Dinge machen, ins Kino gehen, sich mal eine Jeans anziehen und nicht nur im Ringertrikot herumrennen. Wirkliche Quality Time ist Zeit mit der Familie, mit meinem Mann zu haben. Wir gucken einfach richtig gerne einen Film, ich lese super, super gerne, gehe gerne spazieren, verbringe gerne Zeit mit meinem Hund, der leider bei meinen Eltern wohnt und nicht bei mir. Ganz normale Sachen eigentlich und die helfen mir die Akkus aufzuladen.“

Sebastian: „War das schon immer so?“

Aline: „Ja, das war schon immer so. Ich bin sehr sozial. Mir ist es ganz wichtig, Zeit mit der Familie und Freunden zu verbringen und einfach Akkus aufladen. Das war schon immer so. Und wenn das zu kurz kommt im Alltag, dann muss ich das auf jeden Fall spätestens am Wochenende irgendwie nachholen.“

Thema Misserfolg:

Sebastian: „Wodurch verlierst du den Fokus im Wettkampf oder Training? Fehlversuch, Schiedsrichterentscheidung…?“

Aline: „Das ist die große Kunst natürlich, den Fokus nicht zu verlieren. Beim Ringen ist es schon so, dass die Schiedsrichter durchaus Einfluss nehmen können auf den Kampf. Das kann einen auch rausbringen und ärgern. Das habe ich sehr, sehr lange trainiert, dass ich mich da nicht von meinen Emotionen leiten lasse. Was aber auch bei uns extrem ist, ist einfach natürlich der Gegner. Man ist in einem Vollkontaktsport. Man ist für sich 1:1 gegenüber und da gibt es schon einige, die da mit harten Bandagen kämpfen, mit unerlaubten Mitteln. Das macht dann schon auch wütend und aggressiv und stresst einen auch total. Aber auch das ist eigentlich die große Kunst, dass man seine Emotionen die ganze Zeit im Griff hat und eben den Fokus gar nicht verliert. Das man sich gar nicht auf den Gegner oder alles außen herum einlässt. Immer, wenn mir gelungen ist, bei mir zu bleiben, bei meinem Job, den ich zu tun habe und bei dem, was ich machen will, dann war ich eigentlich am erfolgreichsten.“

Sebastian: „Darf ich fragen, wie du das trainiert hast, dass dich Schiedsrichter und Gegner nicht mehr aus der Bahn werfen? Das dürfte vermutlich viele interessieren, wie dies ins Training integrierbar ist.“

Aline: „Ich habe einfach ohne Ende Turniere gerungen. Und ich bin ganz oft dann einfach mal, böse gesagt, vom Schiedsrichter beschissen worden. Es gab da viele Momente, wo ich mich unendlich darüber geärgert habe und wo ich dann aber auch verloren habe, weil ich mich einfach damit zu sehr beschäftigt habe. Und so habe ich das einfach ein bisschen durch die harte Schule lernen müssen. Ins Training integrieren, ist dann soweit möglich, dass man einen Partner hat, der einen härter angeht. Mein Trainer hat das bei mir immer sehr gerne gestellt. Er hat dann auch ein paar unsportliche Aktionen eingebaut. Er ist mich dann im Kampf sehr, sehr hart angegangen, was meine Reizschwelle auf jeden Fall angehoben hat, so dass ich mich einfach aufgeregt habe und mich immer wieder neu konzentrieren musste. Und je saurer ich wurde, desto schlechter lief es dann auch. So haben wir das immer ein bisschen geübt. Er hat auch wirklich versucht, mich kaputt zu spielen, also auch physisch. Einfach, dass ich trotzdem immer wieder versuche, mich zu regulieren. Wir machen viele hochintensive Trainingseinheiten, wo man einfach auch sehr mit sich selbst irgendwie kämpfen muss und seinen Willen und seine mentale Stärke zeigen muss. Das hilft zwar nicht am Ende, wenn dich einer ungerecht behandelt, aber es macht dich einfach im Kopf stark und hilft, immer mehr den Fokus zu finden. Bei mir ist es öfter auch schief gegangen. Da hat man sich dann einfach aufgeregt, sich rausbringen lassen oder sich auf andere Dinge konzentriert. Das klappt einfach nicht immer. Also sehr, sehr viele Turniere gerungen, sehr, sehr viel reflektiert und wenn dann etwas schiefgelaufen ist, habe ich mich einfach extrem geärgert und versucht, es beim nächsten Mal wieder besser zu machen. Und natürlich auch alles wieder ein bisschen visualisieren, also auch im Voraus in Turnieren darauf eingestellt, dass es einfach so kommen kann.“

Sebastian: „Wie findest du nach einem Fehler oder Misserfolg wieder den Fokus?“

Aline: „Erstmal lasse ich ein bisschen Zeit vergehen. Ich bin dann doch auch schon emotional, kann dann auch sehr wütend werden und bin dann absolut nicht rational. Da bringt es auch gar nichts mit mir zu reden oder zu diskutieren, sondern da muss ich einfach raus. Da nehme ich mir Zeit, entferne mich, lenke mich ab und wenn dann mal ein paar Stunden, manchmal sind es ein paar Tage, ins Land gegangen sind, dann habe ich eigentlich immer das ganz rational mit meinem Trainer analysiert, mir die Videos angeschaut, festgestellt, dass es meistens nur ganz kleine Sachen waren und dann eigentlich schon den Schlachtplan festgelegt, wie wir diese Fehler ausmerzen können und wie es dann wieder weitergeht. Erstmal auf jeden Fall Emotionen sacken lassen.“

Sebastian: „Was bedeutet für dich ein Fehler oder Rückschlag im Training oder Wettkampf? Gibt es Unterschiede zwischen Training und Wettkampf?

Aline: „Natürlich gibt es Unterschiede. Im Training ist es auch ärgerlich oder nervig, aber natürlich nicht so schlimm. Im Wettkampf werden Fehler viel härter bestraft. Man hat gerade beim Ringen nicht so viele Chancen, sich zu zeigen in einer Millisekunde und mit einer Fehlentscheidung kann das ganze Turnier beendet sein. Da kann dann gut sein, dass ein halbes Jahr Vorbereitung, 6 Kilo Gewicht machen, dann alles umsonst gewesen sind. Das ist ärgerlich. Deswegen ist das bei einem Wettkampf viel schlimmer. Und am Ende kriegt dich das dann einfach mental mal mehr, mal weniger. Aber auch hier muss man sich früher oder später wieder auf das Wesentliche besinnen und nach vorne schauen.“

Sebastian: „Hat sich diese Bedeutung verändert?“

Aline: „Ja, auf jeden Fall. Je jünger ich war, desto schlimmer war es für mich auch bei Turnieren auszuscheiden oder solche Fehler einzugestehen. Je älter ich wurde, desto dankbarer war ich natürlich irgendwo. Auch wenn das hier eher wie eine Floskel anhört, aber am Ende war es immer so durch Misserfolge und Rückschläge habe ich sehr viel mehr gelernt, bin ich sehr viel heißer gewesen wieder ins Training zu gehen, daran zu arbeiten. Wenn es immer nur gut läuft, dann kann man ein bisschen Fokus verlieren oder auch mal ein bisschen träumerisch werden. Das war bei mir nie der Fall. Es lief zwar Gott sein Dank immer ganz gut, aber selten perfekt und es gab immer etwas zu verbessern. Deswegen muss ich schon sagen, dass Fehler auf jeden Fall superwichtig sind, Rückschläge auch. Natürlich in einem gesunden Maße. Also wenn es zu viel wird und sich das Ganze auch nicht die Waage hält mit Erfolgen, dann kann es natürlich auch zu einer riesengroßen Belastung werden. Aber bei mir war es Gott sei Dank so, dass Fehler und Rückschläge mich eigentlich immer wie wild angetrieben haben und mir sehr dabei geholfen haben, meine Ziele zu erreichen.“

Sebastian: „Wie hat sich diese Haltung entwickelt? Wie hast du diese anwenden können und bist nicht immer wieder in das alte Muster gefallen?“

Aline: „Durch Misserfolge. Ich hatte gerade auch in der Jugend, also mit 20, 21 Jahren sehr erfolgreiche Jahre. Nicht so, dass ich kurz vorm Abheben war. Das nicht, aber ich war dann schon immer der Meinung, dass ich alles richtig mache und wurde dann in meinem letzten Juniorenjahr ausgebremst als amtierende Europameisterin, indem ich sofort nach einem Kampf ausgeschieden bin. Das war für mich ein Riesenschock. Das war für mich superpeinlich, super unangenehm. Das hat mich einfach extrem wachgerüttelt, dass man sich nie sicher sein kann, egal wie gut, egal wie fleißig man ist. Ich bin davor nicht fauler geworden. Das überhaupt nicht, aber man ist nicht mehr so wachsam. Folglich entstand, dass ich immer, wenn es wieder schlechter gelaufen ist auf einem Turnier, dass ich ganz anders ans Training herangegangen bin, viel wachsamer war. Am Ende hat mein Trainer auch immer kommuniziert: „Hey, das ist gut, dass das so passiert ist, dann passiert dir das da schon mal nicht mehr. Gut, dass dir das jetzt passiert ist. Dann können wir daran arbeiten.“ Und über ganz viele Jahre, ganz viele Turniere, über ganz viele Fehler und aber auch viele Niederlagen, die einfach weh tun: dadurch entwickelt sich diese Sicht. Am Ende ist es auch eine ganz klare Entscheidung, will ich jetzt den Kopf in den Sand stecken und mich immer nur aufregen und schlecht drauf sein. Oder will ich das Beste daraus machen und versuchen, mich immer weiterzuentwickeln. Und das war am Ende die Entscheidung, dass Fehler gut sind.“

Thema nach dem Wettkampf:

Sebastian: „Was machst du direkt nach dem Wettkampf? Wie bereitest du einen Wettkampf nach?“

Aline: „Meistens, egal ob gut oder schlecht, lasse ich erstmal sacken, dann wird erstmal gut gegessen. Ein paar Tage wird dann mal an alles andere gedacht. Wir gehen dann nach Hause. Wir starten zwar dann zügig mit dem Training, aber dann ist es nicht immer ganz so intensiv. Es geht darum, den Muskelkater und die ganzen Macken, die man sich beim Wettkampf eingehandelt hat, auszukurieren. Und dann geht es zeitnah in die Analyse. Dann schaue ich mir mit meinem Trainer alle Videos an und dann wird der Schlachtplan für die kommenden Wochen festgelegt.“

Sebastian: „Wie lange denkst du noch an einen Wettkampf, nachdem er abgeschlossen ist?“

Aline: „Also das ist tatsächlich bei mir ewig gewesen. Das war auf der einen Seite eine große Stärke: meine Analysefähigkeit. Aber auch eine Riesenschwäche, weil ich mir einfach super viele Gedanken gemacht habe und mich auch oft von vergangenen Ereignissen, Wettkämpfen, Ergebnissen und so weiter habe beeinflussen lassen. Das war dann nicht immer nur förderlich. Das war Fluch und Segen zugleich. Wie gesagt, es treibt einen sehr an, motiviert, aber in meinem Fall war es dann manchmal auch einfach zu viel, dass mein Trainer auch manchmal sagen musste: „Hey, beruhige dich mal! Es ist nicht die Welt untergegangen wegen einer Sache.“ Ich habe da sehr lange darüber nachgedacht und denke auch jetzt, wo meine Karriere zu Ende ist, immer noch viel an die Turniere, an die Wettkämpfe, spreche gerne darüber, analysiere, was auch in meinem Kopf vorgegangen ist. Aber wie gesagt, Fluch und Segen zugleich.“

Sebastian: „Wie gehst du mit einer Niederlage/ schlechten Wettkampf um? Gibt es etwas Systematisches?“

Aline: „Ja, wie oben schon gesagt. Emotionen sacken lassen, ganz bewusst analysieren, Videos anschauen und ganz rational, wenn man dazu in der Lage ist, den Schlachtplan für die kommenden Aufgaben erstellen.“

Sebastian: „Wie gehst du mit einem Sieg/ guten Wettkampf um? Gibt es hier etwas Systematisches?“

Aline: „Eigentlich tatsächlich genauso. Natürlich bin ich dann ein bisschen euphorischer. Ich muss dann nicht die Emotionen sacken lassen, also muss ich auch, um dann rational sein zu können, trotzdem gemachte Fehler analysieren zu können, weil wie gesagt, selbst wenn man gewinnt, ist noch nicht alles perfekt. Aber dann läuft es genauso. Dann freut man sich, man trinkt abends vielleicht noch etwas, aber am Ende esse ich gut, erhole mich, analysiere und mache weiter.“

Thema Trainer*in:

Sebastian: „Was macht für dich eine*n gute*n Jugendtrainer*in aus?“

Aline: „Ähnlich, was auch einen Erwachsenentrainer ausmacht, nur dass der noch mehr Sozialkompetenz mitbringen muss. Die Kinder sind einfach ganz unterschiedlich heutzutage. Es gibt einfach auch ganz sensible Kinder. Dann gibt es welche, die sind super talentiert, dann gibt es welche, denen fällt alles mega schwer. Ich glaube, das Wichtigste ist die Sozialkompetenz. Dass man auf alle eingehen und alle irgendwie abholen kann. Natürlich muss auch der Trainingsinhalt stimmen. Man muss diese sehr breit ausbilden, noch gar nicht so spezialisieren, sondern viele Techniken üben, eine gute physische Grundausbildung ist wichtig, aber das traue ich auch jedem mittelmäßigem Trainer zu. Wichtig ist einfach, dass er an die Kinder herankommt, dass sie ihn mögen, dass sie ihm vertrauen und dass er es schafft, auch einfach Spaß zu vermitteln. Ringen ist eine sehr, sehr harte Sportart. Man verliert und gewinnt immer alleine. Man steht da immer im Fokus auf der Matte. Das ist für so eine kleine Kinderseele ab 6 Jahre nicht ganz so einfach und deswegen ist es da ganz wichtig, dass der Jugendtrainer einfach immer da ist, um aufzufangen, zu unterstützen und wieder neu zu motivieren. Meiner Meinung nach sind diese Kompetenzen gerade in den jüngeren Jahren wichtiger als die Tatsache, dass man tausend Techniken beherrscht oder wie man diese vermittelt.“

Sebastian: „Wie stellt ein* Trainer*in zu dir eine zielführende Beziehung her?“

Aline: „Ganz klar mit Vertrauen. Ich brauche jemanden, der auf jeden Fall ehrlich ist, der sachlich ist, der rational ist, nicht ganz so emotional wie ich an die Sache herangeht, aber auf den ich mich einfach verlassen kann. Und diese Trainer habe ich zum Glück gefunden, die genauso viel Energie und Herzblut hineingesteckt haben wie ich und mit ihrer ganzen Seele das erreichen wollten. Aber es geht nichts ohne Vertrauen. Und dann kann man auch mal nach einem schlechten Wettkampf sich anschreien oder auch mal härter miteinander reden, ohne dass es irgendwas mit einem oder mit der Beziehung macht.“

Sebastian: „Was stört dich an einem*r Trainer*in? Wodurch nimmt dir der*die Trainer*in die Motivation?“

Aline: „Gute Frage. Ich mag es eigentlich nicht so, wenn Kreuzvergleiche angestellt werden, also wenn man sagt: „Guck mal, die hat das so gut gemacht und die macht das viel besser als du.“, sondern ich finde, dass man auf jeden Fall individuell die Athleten betreuen muss. Und ich mag das auch nicht, wenn man an Kennzahlen festgemacht wird, an Statistik. Du muss so und so viel Gewicht heben oder nicht. Da ist einfach jeder individuell. Das passt mir nicht.“

Bild von Marion Stein

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